Die Optimierung des Künstlers

Die Künstlergruppe SCHAUM wendet in ihrer neuen Performance die Mechanismen der Selbstoptimierung auf die Kunst und auf den künstlerischen Schaffensprozess an. Der Künstler als Selbstoptimierer ist kein Exot, sondern wird zum Prototyp des modernen Individuums. Auch den Künstlerinnen und Künstlern bietet die Gegenwart tausend Möglichkeiten, und, sie nutzen diese um das Maximum aus dem irdischen Dasein herauszuholen. Damit sie ihr eigenes Ziel nicht verfehlen, kontrollieren sie sich gegenseitig rund um die Uhr mithilfe eines ganz persönlichen Überwachungstrupps, bestehend aus kleinen Maschinen: Sensoren am Körper, medizinischen Überwachungsgeräten, Computerprogrammen, Apps – die absurden Ergebnisse werden während der SCHAUM-Performance „Selbstoptimierung“ penibel in Tabellen erfasst.
Die Künstlergruppe materialisiert sich in der Situation des Durchschnittsmenschen, an dem die Versuchsanordnungen für selbstoptimierende Prozesse durchgeführt werden. In den neuen Fotoserien, Skulpturen und Installationen werden die Probanden selbst ebenso wie einzelnen “objects trouvés” zweckentfremdet, missbraucht und mit ausgewählten altermeisterlichen Tafelbildern, Allegorien, christlicher Ikonografie und Werkkompositionen verwoben. Bildästhetisch konzentrieren sich die Konzeptkünstler auf das Verschmelzen von offenkundigen, alltäglichen Situationen der eigenen Körper (Several Ways of Reading), Objekten, Räumen und Bildwerken. So entstehen Transformationsprozesse, die in einer neuen, manipulierten Form einer anscheinend aussagefähigen Wirklichkeit münden.

Die Form des Triptychons erhebt Allegorie zu einem fiktiven Andachtsbild der globalisierten Gegenwart, in der „Menschen als Daten, Kultur als Kapital, Wellness als Politik, Glück als BIP“ verehrt werden könnten, wie es bei der 9. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst hieß. Ein Vanitas-Stillleben als mittlere Haupttafel erfordert jedoch mit einem “homo-bulla-Motiv” – dem Menschen als Seifenblase- ein absurdes Innehalten als Reaktion. Irdisches Dasein bedeutet Vergänglichkeit: Wie eine frische Blume, die plötzlich verwelkt und deren Schönheit vergeht, so entflieht das Leben – eine Seifenblase aus leerem Dunst.
Auf den Seitenflügeln des Triptychons sind Vorboten als Folge aus der neuzeitlichen Idee der Selbstoptimierung zu sehen. Eng verbunden mit der Verachtung des Irdischen und einer Negation der Welt werden hier diesseitige Werte moralisierend vor Augen geführt: Vergänglichkeit, Eitelkeit und Nichtigkeit. Die erloschene Kerze, der Spiegel als Zeichen der narzisstischen Selbstverliebtheit, die Uhr als Gleichnis für die Dauer und Endlichkeit des menschlichen Lebens und erneut die Seifenblasen – hier nur im Spiegel – gestalten das minimalistisch ausgestattete Interieur des festlich gekleideten Paares im Bildvordergrund. Erinnert diese Raumkomposition mit wenigen ausgewählten „Luxusgütern“, die sich um ein in prachtvolle Stoffe gehülltes Paar ausbreitet, nicht an Die Hochzeit des Giovanni Arnolfini, die der niederländische Maler Jan van Eyck im Jahr 1434 fertigstellte? Insbesondere das Unterstreichen von begehrlichen Reizen und neuen Konsumstandards sowie die erhobenen Hände (hier zum Blutdruckmessgerät statt zum Schwur) entlocken unserer Erinnerung diese Analogien. In der zweiten Tafel transformieren die Künstler kunsthistorisches Erinnerungsgut in Gegenüberstellung zur Wirklichkeit weiter.
Konsumdenken, Überfluss, Unentschiedenheit und Markenfetischismus scheinen das Paar (inklusive seiner Spiegelung) in einer überfüllten Umkleidekabine vom rechten Weg abzubringen. In der diagonalen Überstreckung der Frau im Mater-dolorosa-Habitus wird die ganze absurde Verzweiflung offenkundig: Welches prunkvolle Gewand soll sie auswählen? Das biblische Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Lk 16, 19–31) eröffnet weitere Bezüge mit christlicher Konnotation. Selbstoptimierungsstrategien haben heute religiöse Riten abgelöst, behauptet der Philosoph Peter Sloterdijk. Das hieße in der Praxis, dass die in alle Lebensbereiche eingreifende Optimierungspraxis ein permanentes Nach-oben-Streben mit sich bringt, und zwar in einem Moment, in dem politisches Denken und Ideologien ausgedient hätten: Was bleibt? Mach das Beste aus dem eigenen Leben – eine Leistungsideologie, die den Gesetzen von Markt, Effizienz und Anpassung folgt. Wo aber ist die Grenze zwischen einer totalitären Kontrolle durch diese Gesetzmäßigkeiten und der persönlichen Autonomie, der Freiheit über den eigenen Körper durch Selbstüberwachung und -verbesserung? Welche Rolle nehmen die Künstler und Künstlerinnen als vielleicht letzte kritische Bastion in diesen Prozessen ein? SCHAUM führt uns hier vor dem Hintergrund der Optimierungspraxen ein ‚Absurditätenkabinett‘ vor, das den Betrachter irritiert, aufrüttelt und berauscht.

Die Palette der Warnsignale nach ISO7010/W030 wird, gekoppelt mit einer inszenierten Demonstration und der Teilnahme an einer realen Demonstration gegen kulturpolitisch zweifelhafte Maßnahmen in der Rostocker Theaterszene, um das Symbol der wertfreien „Warnung vor dem Schwure“ erweitert. Die verarmte Künstlergruppe SCHAUM mit aussagekräftigem Logo sucht im Zeit-Magazin zwischen Kontaktanzeigen nach Mäzenen zur Realisierung ihrer Kunstprojekte. Eine italienische Marinedecke „warm, weich, wirklich groß und von stattlichem Gewicht“, die von Einsatzkräften im Mittelmeer bei der Seenotrettung genutzt wird, kann man im Versandhaus bestellen. SCHAUM erhebt sie zum Gobelin, zur Tapisserie des 21. Jahrhunderts, mit musealer Wandpräsentation – Non toccare!, nicht berühren. Ihr gegenüber stehen, wie Reliquien präsentiert, Tempo-Taschentücher, die in den häufigsten Sprachen der aktuell auf der Flucht befindlichen Menschen im Mittelmeerraum mit AUF WIEDERSEHEN bestickt wurden. Ohne politische Inhalte aktiv vertreten zu wollen, formuliert SCHAUM in aller Deutlichkeit, dass die Bevölkerung der EU-Kernländer überwiegend an ihrem Status Quo festzuhalten gewillt ist. Die Hingabe zum individuellen Wohlbefinden mittels Optimierung und Selbstkontrolle stellen die Künstler dabei in den Mittelpunkt.

Anke Hervol